Neurologisches Forschungsinstitut Breslau, 1940er Jahre



Viktor von Weizsäcker und der Nationalsozialismus

Seit einem Referat des Medizinhistorikers W. Wuttke-Groneberg auf dem Gesundheitstag in Berlin 1980 („Von Heidelberg nach Dachau“), sowie dem Erscheinen des Aufsatzes „Der Fall Viktor von Weizsäcker“ von K. H. Roth (1986) in der Zeitschrift „1999“ wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, wie die Verantwortung Viktor von Weizsäckers dafür einzuschätzen ist, dass nachweislich über 200 Gehirne der in einer Kinderfachabteilung in Lubliniec ermordeten Kinder mit Behinderungen in seinem Neurologischen Forschungsinstitut in Breslau neuropathologisch untersucht und die entsprechenden Befunde zurück nach Lubliniec gesendet wurden.

Strittig ist insbesondere der Zusammenhang zu Weizsäckers ärztlichen Schriften. In zwei seiner Texte aus den Jahren 1933/34 verwendet er den Begriff einer zu entwickelnden ärztlichen Vernichtungslehre. Während manche Autoren einen Zusammenhang zur Ideologie des Nationalsozialismus sehen, deuten andere sie als begriffliche Anpassung, welche zugleich inhaltlichen jeder ärztlichen Rechtfertigung der Ermordung von Menschen mit Behinderungen widerspricht. Da sich seit der ersten Stellungnahme des Vorstands der V. v. Weizsäcker Gesellschaft durch die medizinhistorische Forschung wesentliche Neuerungen ergeben haben, nimmt der aktuelle Vorstand der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft erneut wie folgt Stellung...

Unser erster Gedanke gilt den in Lubliniec ermordeten Kindern und Jugendlichen. Es ist neueren Untersuchungen polnischer und deutscher Autoren zu danken, dass wir heute über sie und ihren Leidensweg mehr und Konkreteres wissen. Zu ihrem Andenken beizutragen – mit Nennung ihres vollen Namens und als Menschen mit einer konkreten Leidensgeschichte - ist uns eine Verpflichtung (siehe die Darstellung des Lebens von Gerda Kuschel auf der Seite des T4-Gedenkvereins und des Überlebenden Jerzey Redlich auf der Internetseite von A. Penselin). Aus dem ihnen angetanen, grausamen Unrecht folgen die Schuld und die Verantwortung aller an ihr aktiv oder passiv Beteiligten. Die seither vergangene Zeit mindert diese nicht, sondern vermehrt die Bedeutung, an sie zu erinnern.

Unsere Aufgabe kann jedoch nicht darin bestehen, die exakte Bestimmung der Schuld und Verantwortung V. von Weizsäckers mit dem Anspruch alleiniger Kompetenz oder gar abschließender Gültigkeit vorzulegen. Stattdessen haben wir auf unserer Homepage jedem Leser den Zugang zu umfangreichem historischen Material zur Verfügung gestellt, damit er sich selbst auf der Grundlage nicht einer einzelnen Meinung oder einer zusammenfassenden Kurzdarstellung, sondern mithilfe möglichst umfassender und detaillierter Fakten eine eigene Meinung zu bilden vermag. Ein erhebliches Problem der aktuellen Debatte besteht darin, dass zu selten die erforderliche Sorgfalt darauf verwendet wird, die historischen Fakten sowie die Texte V. v. Weizsäckers im Gesamtzusammenhang seiner Schriften zu berücksichtigen.

Demgegenüber könnte eine detaillierte, alle aktuell verfügbaren historischen Fakten berücksichtigende Aufarbeitung zur Ermordung jener Kinder mit Behinderungen in Lubliniec, sowie der anschließend in V.v. Weizsäckers Breslauer Institut erfolgten neuropathologischen Untersuchungen fast schon exemplarisch aufzeigen, dass es weder eine einheitliche nationalsozialistische Ideologie zu ihrer Begründung gab, noch ausschließlich ärztliche Überzeugungstäter, die diese Ideologie lediglich in die Praxis umsetzten. Es gab zwar einen groben ideologischen Begründungszusammenhang (geringe ökonomische Verwertbarkeit der späteren Arbeitskraft und die angebliche Befreiung von unerträglichem Leid) von Seiten der staatlichen Organisatoren. Die rassenbiologischen Grundlagen dieser Argumentation mögen viele Ärzte schon vor der Zeit des Nationalsozialismus geteilt haben (beispielsweise die Leiterin der kinderpsychiatrischen Abteilung in Lubliniec, E. Hecker). Die Motivationen aller einzelnen Akteure in den ausführenden Institutionen, einschließlich ihren politischen und wissenschaftlichen Überzeugungen, waren jedoch extrem unterschiedlich. So war z. B. der leitende Arzt des gesamten psychiatrischen Krankenhauses in Lubliniec, E. Buchalik, ein gläubiger Katholik; der Neuropathologe im Breslauer Institut, H. J. Scherer, hingegen war ein überzeugter Sozialist und Gegner des Nationalsozialismus. Die sogenannte Kinder-Euthanasie war nicht deshalb möglich, weil alle an ihr Beteiligten ideologisch überzeugte „Nazis“ waren, sondern weil es deren Organisatoren gelang, Beteiligte ganz unterschiedlicher ärztlicher und politischer Überzeugungen in ihren Vollzug einzubinden. Dies muss für uns heute eine weitaus unbequemere Warnung sein. Die überzeugten Akteure, die zur Beteiligung Genötigten, sowie die schweigenden Dulder, sie alle tragen in unterschiedlichen Formen Mitverantwortung.

Für jeden, der V. v. Weizsäckers Begründung einer Medizinischen Anthropologie auch heute noch für aktuell und bedeutsam hält, mag es die viel beunruhigendere Einsicht sein, dass V. v. Weizsäcker zwar kein Anhänger der Politik der Nationalsozialisten gewesen ist, ihn dies aber keineswegs von einer Mitverantwortung als Breslauer Institutsleiter entlastet. Sein Bemühen um eine Medizin, die den kranken Menschen nicht als Objekt medizinischer Therapie, sondern als Subjekt wahrnimmt und respektiert, hat ihn nicht davor geschützt, zu diesen Patientenmorden zu schweigen und damit Mitverantwortung zu tragen. Zwar gibt es keine Belege dafür, dass ihm als Institutsleiter die Hintergründe der Untersuchungen seines Neuropathologen bekannt waren. Es mag allerdings viel dafürsprechen. In jedem Falle aber hätte er es wissen müssen.

Welche Form von Duldung, Mitwisserschaft und Schweigen ihm zuzurechnen ist, kann nur jeder Sachkundige für sich entscheiden. Ein endgültiges Urteil wird es dazu nicht geben können, da immer mit dem Auftauchen neuer Belege und demzufolge mit einem Wandel der begründbaren Einschätzungen zu rechnen ist. Lange Zeit erschien es z. B. als gesicherte Erkenntnis, dass jener Neuropathologe, H. J. Scherer, im Breslauer Institut völlig unabhängig von V. v. Weizsäcker, seinen übrigen Mitarbeitern und der mit ihnen verbundenen Gestaltkreis-Forschung gearbeitet hat. Erst durch die Recherchen von W. Rimpau konnte in Erfahrung gebracht werden, dass V. v. Weizsäcker ihn als Wissenschaftler persönlich schätzte, sich für eine seiner Buch-Veröffentlichungen einsetzte und auch von seiner sozialistischen Überzeugung wusste. Auch in diesem Zusammenhang stellen sich viele, derzeit nicht sicher beantwortbare Fragen (beispielsweise, ob H. J. Scherer mit V. v. Weizsäcker über die Anzahl und Todesursachen der Kinder in Lubliniec gesprochen hat). Dennoch haben wir die Verpflichtung, uns um noch präziser belegte Antworten zu bemühen. Dazu wollen wir alles uns Mögliche beitragen. Vor diesem Hintergrund würden wir uns über jede Anregung, inhaltliche Kritik und Zustimmung oder gar die Zusendung neuer Belege freuen.

Der Vorstand der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft, im Mai 2023

 

Die Stellungnahme können Sie auch in der nachfolgenden Liste als PDF öffnen bzw. herunterladen.

Dokumente/Material zur Debatte

Vorstand der VvWG

Stellungnahme des Vorstands der VvWG zur NS-Zeit viktor von Weizsäckers, Mai 2023

2023

Wilhelm Rimpau

Das Otfrid-Foerster-Institut in Breslau und die "Kindereuthanasie" in Loben

Rimpau W (2021). Das Otfrid-Foerster-Institut in Breslau und die "Kindereuthanasie" in Loben. Auf der Suche nach der historischen Wahrheit. H.-J.Scherer ( 1906-1945): Genialer Wissenschaftler und Opfer politischer Willkür. In: Holdorff B & W. Rimpau ( 2021). Neurowissenschaftler im Zwielicht während der NS-Zeit in Berlin-Buch und Breslau. Peter Lehmann Publishing, Berlin/Lancaster, S.32-55, 2021

Andreas Penselin

Kommentar zum Vortrag "Ärztliches Handeln als ethische Praxis" von M. Brumlik

2021

Stellungnahme des Vorstands der Gesellschaft

Viktor v. Weizsäcker und der Nationalsozialismus

2006

Aufsatz Cora Penselin

Mitteilungen 2009, S. 614-618