V.v.Weizsäcker mit Kindern am Schloss Heidelberg, 1929



Viktor von Weizsäcker – Leben und Werk im Umriss

Text: Johannes Picht

1886

Viktor von Weizsäcker – damals noch Viktor Weizsäcker – wurde am 21. April 1886 in Stuttgart geboren.

Sein Vater Karl Weizsäcker, der als Jurist im Staatsdienst bis zum Ministerialdirigenten und Chef der Staatsregierung unter dem letzten württembergischen König aufstieg, wurde 1916 von diesem mit seiner Familie in den erblichen Adelsstand eines Freiherrn erhoben. Der Großvater, Carl Heinrich Weizsäcker, Professor der Theologie und Kanzler der Universität Tübingen, hatte 1874 eine eigene Übersetzung des Neuen Testaments publiziert. Auch der Urgroßvater, Christian Ludwig Friedrich Weizsäcker, war Pfarrer gewesen.

Weizsäckers älterer Bruder Ernst von Weizsäcker, der Vater des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker und des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, war Diplomat und unter Ribbentrop von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 1947 wurde er im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess wegen seiner Mitwirkung an der Deportation französischer Juden als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Haft verurteilt, kam aber 1950 im Zuge einer Amnestieregelung frei.

Viktor (mi.) mit seinen Brüdern Ernst und Carl, ca.1890

1904 ...

Weizsäcker fühlte sich zur Philosophie hingezogen, folgte aber dem Rat seines Vaters, „ein Brotstudium zu wählen“ (VII, 372), und schrieb sich 1904 in Tübingen für das Studium der Medizin ein.

1906 wechselte er nach Freiburg, um am Physiologischen Institut unter Johannes von Kries über die Fortpflanzung der Erregung in Nervenzellen zu arbeiten. Hier befreundete er sich mit Franz Rosenzweig (damals noch Medizinstudent, später Philosoph, Historiker und Bibelübersetzer). Mit ihm ging er zum Wintersemester nach Berlin, wo er am Urban- Krankenhaus in Kreuzberg famulierte, sich erstmals für soziale Bedingungen für Entstehung und Verlauf von Erkrankungen interessierte und vom „Feuerkopf des alten Bebel“ im Reichstag fasziniert war (I, 265).

Nach dem Wechsel nach Heidelberg 1908 erweiterte sich der Freundeskreis um die mit Rosenzweig verwandten Vettern Hans Ehrenberg (Theologe, Mitglied der Bekennenden Kirche) und Rudolf Ehrenberg (Philosoph und Biologe) sowie Eugen Rosenstock-Huessy (Rechtswissenschaftler, Philosoph und Soziologe).

Weizsäcker, dessen Interesse sowohl an der Philosophie als auch an sozialen Fragen sich intensivierte, nahm an Vorlesungen und Seminaren von Wilhelm Windelband teil, der der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus zugerechnet wird, sowie an einer „Baden-Badener Gesellschaft“, der neben Rosenzweig, den Ehrenbergs und anderen auch Ernst Robert Curtius und Werner Picht angehörten, ersterer später Weizsäckers Schwager, letzterer später der Schwager seiner Frau Olympia geb. Curtius. Erneut war Weizsäcker in Versuchung, die Medizin aufzugeben und Philosoph zu werden (I, 24 ff).

Studienzeit Freiburg,
ca. 1906

1909 ...

1909 legte Weizsäcker das medizinische Staatsexamen ab; ein Jahr später wurde er mit einer Arbeit „Beitrag zur Frage der Blutgeschwindigkeit bei Anämie“ promoviert.

Nach einem weiteren Jahr bei von Kries in Freiburg wurde er Assistent an der Medizinischen Universitätsklinik in Heidelberg unter Ludolf von Krehl.

1914 ging er für einen Studienaufenthalt nach Cambridge, wurde aber mit Kriegsbeginn als Truppenarzt eingezogen und diente u.a. in einem Seuchenlazarett an der Maas sowie in Montmédy.

1917 habilitierte er sich für Innere Medizin mit einer Arbeit „Über die Energetik der Muskeln und insbesondere des Herzmuskels sowie ihre Beziehung zur Pathologie des Herzens“.

Oberst der Reserve, Westfront, Herbst 1914

1920 ...

1920 übernahm er die Leitung der Nervenabteilung der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg, 1922 wurde er dort Außerordentlicher Professor für Neurologie, 1930-1941 leitete er diese Abteilung als persönlicher ordentlicher Professor.
„Ich wollte Internist werden und bin nur Neurologe geworden“ (I, 44). „Ich war Leiter einer neurologischen Klinik, hatte aber keine zünftige Leidenschaft für dieses Fach“ (I, 149).

Im Arztkittel, 1921

Parallel zu dieser wissenschaftlichen Laufbahn in der Inneren Medizin und Neurologie begann Weizsäcker, philosophische Aufsätze zu publizieren. Bereits 1911 war ein Aufsatz „Neovitalismus“ erschienen; es folgten 1916 „Kritischer und spekulativer Naturbegriff“ und 1917 „Empirie und Philosophie“.

1919 hielt Weizsäcker an der Universität Heidelberg eine naturphilosophische Vorlesung unter dem Titel „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Über diese notierte er später:
„Es war klar, dass diese Naturphilosophie eine religiöse sein sollte […] wenn es auch nicht direkt ausgesprochen war und die Hörer durch die philosophierende Form […] teilweise getäuscht wurden“ (I, 196).

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
Vorlesungen Wintersemester 1919/20

1920 ...

1920 heiratete Weizsäcker Olympia geb. Curtius, eine Tochter des Juristen (und bis 1914 Präsidenten des Direktoriums der Kirche Augsburgischer Konfession von Elsass und Lothringen) Friedrich Curtius, Enkelin des Altertumswissenschaftlers Ernst Curtius und Schwester des Romanisten Ernst Robert Curtius.

Der Ehe entstammten vier Kinder: Robert, geb. 1921, wurde 1942 im Felde vermisst; Ulrike, geb. 1923, kam 1948 bei einem Sturz vom Frankfurter Römer zu Tode; Eckhard, geb. 1925, fiel noch in den letzten Kriegstagen 1945. Nur Cora (1929-2009) überlebte ihre Eltern.

Olympia und Viktor,
April 1920

Seit den 20er Jahren befasste Weizsäcker sich mit Fragen der Bewegungskoordination, der Reflexbewegungen und ihrer Störungen, der Willkürbewegungen sowie der Wahrnehmungsphysiologie. Parallel dazu setzte er mit einem Aufsatz über „Das Antilogische“ (1923) seine philosophische Arbeit fort, die sich in der Folge zunehmend der Medizin, der Aufgabe des Arztes und dessen Beziehung zum Kranken zuwandte und sich mit Weizsäckers wissenschaftlichen Fragestellungen verband. 1926 erschien „Seelenbehandlung und Seelenführung. Nach ihren biologischen und metaphysischen Grundlagen betrachtet“.

Seelenbehandlung und Seelenführung, 1926

1926 ...

Zwischen 1926 und 1930 war Weizsäcker als Vertreter des Protestantismus zusammen mit dem Juden Martin Buber und dem (1926 aufgrund seiner von der Amtskirche abweichenden Ansichten exkommunizierten) katholischen Theologen Joseph Wittig Herausgeber der Zeitschrift „Die Kreatur“; hier veröffentlichte er seine „Stücke einer medizinischen Anthropologie“ („Der Arzt und der Kranke“, 1926; „Die Schmerzen“, 1926; „Krankengeschichte“ 1928).

So formte sich die „medizinische Anthropologie“ als Erkenntnisweise, die er 1926 als „Umwandlung der Metaphysik“ bezeichnete, deren erste Erscheinung sich aus der Erfahrung des Arztes in der Begegnung mit dem Kranken ergab, die sich dann aber über Stufen der Abstraktion und der philosophischen Reflexion wie auch der wahrnehmungs- und bewegungsphysiologischen Forschung zur Theorie des „Gestaltkreises“ weiterentwickelte.

Die Kreatur,
Erstes Heft, 1926

1927 ...

Dieser Begriff wurde 1927 erstmals in dem Aufsatz „Über medizinische Anthropologie“ für die Beziehung zwischen Arzt und Krankem verwendet, die sich nicht im Sinne einer linearen Kausalität als Reagieren des Arztes auf objektive Befunde oder Sachverhalte beschreiben lässt.

In einem Aufsatz von 1932 „Der Gestaltkreis, dargestellt als psychophysiologische Analyse des optischen Drehversuchs“ wurde dieses Prinzip auf experimentelles Arbeiten übertragen. Die Summe seiner Forschungen und Überlegungen zum Gestaltkreis zog Weizsäcker in dem 1940 erschienenen Buch „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“.

Der Gestaltkreis
(3. Auflage, 1947)

Die Einführung der Psychologie in die Medizin durch die Neurosenlehre Freuds empfand Weizsäcker als „deutlichste Einbruchsstelle“ für etwas, das er aus philosophisch-theologischen Gründen für notwendig hielt: die „Einführung des menschlichen Subjekts in das anatomisch-physiologische Denken der Medizin“ (V, 261), was allerdings, wie Weizsäcker klar erkannte, nicht nur eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs, sondern eine neue Konzeption des Erkenntnisvorganges forderte, der nun als Vorgang in der Natur selbst zu dem Feld der Erkenntnis gehörend und ihm nicht extern angenommen werden musste. „Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen“ (IV, 83).

So begann Weizsäcker sich für die Sache der damals aufkommenden Psychotherapie zu interessieren und dies auch öffentlich zu vertreten. 1926 hielt er auf dem Ersten Ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden einen Vortrag „Psychotherapie und Klinik“. Mit den Schriften Sigmund Freuds war er kurz zuvor erstmals in Berührung gekommen. Im gleichen Jahr besuchte er Freud in Wien, um ihm dafür zu danken, „dass durch seine Hilfe der ärztliche Beruf für mich nach einer Seite hin erweitert wurde, ihm dadurch ein Leben einzuhauchen schien, das sonst vielfach zu erstarren und zu veröden drohte" (I, 143).

Den „Einbruch der Psychologie in die Medizin“, den er mit Freud verband, fasste er als Aufbruch zu einer Umgestaltung der gesamten Medizin, die Psychoanalyse als einen der bedeutendsten Beiträge des Jahrhunderts zur Medizin auf. 1933 ließ er seine umfangreiche und ihm besonders wichtige Arbeit „Körpergeschehen und Neurose“ in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse erscheinen. Auch späterhin setzte er sich für die Psychoanalyse ein, sorgte etwa dafür, dass Freuds Werke für die Bibliothek der Krehl-Klinik angeschafft wurden und dort zugänglich blieben, und war im Wintersemester 1945/46 der erste, der an einer deutschen Universität eine Vorlesung über Freud anbot. Auch aus seiner intellektuellen Autobiographie „Natur und Geist“ von 1944 spricht ein hohes Maß an Wertschätzung und Sympathie für Freud. Zugleich war Weizsäcker aber ein Kritiker Freuds, dem er u.a. – vor dem Hintergrund seiner eigenen Position – eine Befangenheit in den wissenschaftlichen Haltungen vorhielt, die zu überwinden die Psychoanalyse doch gerade angetreten sei. Schwerer noch, weil grundsätzlicher, wiegt seine Gegnerschaft zu dem, was er als Freuds Materialismus bezeichnete, und zu Freuds Atheismus (vgl. I, 128; 157).

Herbst 1926

1928 ...

Ab 1928 hatte sich Weizsäcker verstärkt sozialmedizinischen und sozialtherapeutischen Fragen zugewandt. Er besichtigte Industriebetriebe in Ludwigshafen und im Ruhrgebiet und forderte eine einheitliche Staatsversicherung, die sich nach Bedürftigkeit statt nach Rechtstiteln zu orientieren habe, fand aber wenig Anklang.

Die Beschäftigung mit diesen Themen äußerte sich in einer Reihe von Publikationen (u.a. „Über Rechtsneurosen“ 1929, „Soziale Krankheit und soziale Gesundung“ 1930, „Ärztliche Gedanken zur Versicherungsreform“ 1931) und in der Einrichtung von arbeitstherapeutischen Abteilungen in Heidelberg und Schlierbach, die als Vorläufer moderner psychosomatischer Rehabilitationsabteilungen gelten können.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 scheint Weizsäcker eine Zeitlang die Hoffnung gehabt zu haben, die neuen Machthaber könnten den von ihm für notwendig gehaltenen Reformen im Bereich der Sozialversicherung gegenüber aufgeschlossen sein, was sich aber bald als Illusion erwies.

Soziale Krankheit und Soziale Gesundung,1930

Dass Gesundheit nicht mit Arbeitsfähigkeit gleichzusetzen sei, ergab sich für ihn nicht zuletzt aus seiner Kritik einer einseitig physiologischen Beschreibung von Gesundheit. Entsprechend kritisierte er eine gesellschaftlich-ökonomische Funktionalisierung der Medizin als „Gesundheitsfabrik“ zur Herstellung „beliebig verwertbarer Gesundheiten“ auch mit dem Hinweis, dass der Kranke an seiner Erkrankung einen unbewussten Willensanteil habe (VII, 289), und warnte vor einem „Darwinismus und Ökonomismus der Ausmerze“ (VIII, 151). Zugleich argumentierte er jedoch mit der Kategorie der „Volksgesundheit“ und stimmte, wenn auch unter Anmahnung enger Grenzen der Anwendung, dem Gesetz zur Zwangssterilisierung ausdrücklich zu. In einer Vorlesung von 1933 monierte er die Notwendigkeit einer „ärztlichen Vernichtungslehre“, da eine „rein als Erhaltungslehre aufgebaute Heilkunde“ eine Illusion sei (V, 323).

Auf der Reichenau,
August 1934

1941 ...

1941 wurde Weizsäcker, der vergeblich auf ein Ordinariat in Heidelberg gehofft hatte, in der Nachfolge von Otfried Foerster als Ordinarius für Neurologie und Direktor des neurologischen Forschungsinstituts an die Universität Breslau berufen. Im gleichen Jahr wurde er als Sanitätsoffizier mit der Einrichtung eines arbeitstherapeutischen Lazaretts für Hirnverletzte in Breslau sowie mit der Leitung und Beratung von Lazaretten im Krieg betraut.

In der Breslauer Zeit schrieb Weizsäcker die Autobiographie „Natur und Geist“ (erschienen 1954) sowie „Anonyma“, eine Art philosophisches Bekenntnis (erschienen 1946). Er befasste sich außerdem mit dem Existenzialismus Sartres (vgl. IV, 100) und mit einer Übersetzung von dessen „La Nausée“.

Ob und inwieweit Weizsäcker wusste bzw. hätte verhindern können, dass an der neuropathologischen Abteilung in dem von ihm geleiteten Institut auch Gehirne von Kindern untersucht wurden, die im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms in der „Heil- und Pflegeanstalt Loben“ (Lubliniec) seit August 1942 ermordet worden waren, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Er selbst hat sich hierzu weder vor noch nach Kriegsende und weder öffentlich noch privat in irgendeiner Form geäußert. Alle Hirnuntersuchungen wurden von dem Pathologen Hans Joachim Scherer durchgeführt, einem unter Gestapo-Aufsicht stehenden Regimegegner, den Weizsäcker sehr schätzte. Weizsäcker selbst hatte kein eigenes wissenschaftliches Interesse an hirnpathologischen Untersuchungen.

In Breslau, ca. 1944

1945 ...

Im Februar 1945 verließ Weizsäcker, der seine Familie bereits an den Bodensee hatte vorausreisen lassen, Breslau auf militärischen Befehl unter Zurücklassung seines gesamten Besitzes einschließlich seiner Bibliothek. Über Dresden (wo er den Bombenangriff überlebte) und Schkeuditz gelangte er nach Heiligenstadt/Thüringen, wo er in amerikanische Gefangenschaft genommen wurde, dann nach Göttingen, schließlich nach Heidelberg.

Während dieser Reise, deren äußere Umstände er in einem Reisebericht schildert (Weizsäcker 2007), wurde das autobiographische Buch „Begegnungen und Entscheidungen“ niedergeschrieben, das 1949 erstmals erschien.

In Heidelberg war er zunächst Vertreter auf dem Lehrstuhl für Physiologie; 1946 wurde er auf ein für ihn neu eingerichtetes Ordinariat für Allgemeine klinische Medizin an der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg berufen.

In den Folgejahren war er zusammen mit seinem Schüler Alexander Mitscherlich beteiligt an der Einrichtung der ersten psychosomatischen Abteilung an einer deutschen Universitätsklinik, deren Leitung Mitscherlich übernahm, sowie an der Gründung der von Mitscherlich mit anderen herausgegebenen Zeitschrift PSYCHE, zu deren ersten Heften er mehrere Texte beitrug, unter ihnen den Aufsatz „'Euthanasie' und Menschenversuche“. Seit 1948 arbeitete Weizsäcker an seinem Spätwerk, „Pathosophie“, das unvollendet blieb; es erschien in einer ersten Druckfassung 1956.

Psychologisches Institut
der Universität Heidelberg

1952

1952 ließ sich Weizsäcker, inzwischen an Morbus Parkinson erkrankt, emeritieren. Im gleichen Jahr wurde er zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gewählt.

Im Hörsaal, Nachkriegzeit

1957

Viktor von Weizsäcker starb am 8. Januar 1957 in Heidelberg.

Text: © Johannes Picht, 2023